Die Andron-Geschichte
Es begann eigentlich mit meiner Großmutter. Sie gab mir Kinderbücher aus den 1920ern die in Sütterlinschrift gesetzt waren, als ich klein war. Ihre Postkarten an mich schrieb sie in ihrer üblichen alten deutschen Schreibschrift, und, damit ich das lesen konnte, zeigte sie mir wie sie geschrieben wird. Später las ich mehr ältere Bücher – reihenweise Karl-May-Romane in alten Ausgaben vor allem –, die in Fraktur gesetzt waren. Als ich etwa 12 war, las ich solche Bücher so selbstverständlich wie jüngere Bücher in Antiqua.
Als Heranwachsender begann ich, Abendkurse für Schüler an der Kunstakademie zu besuchen. Hier machte ich das erste Mal Bekanntschaft mit Schriftgestaltung: mit einem spitzen Messer hatten wir serifenlose Buchstaben aus schwarzem Papier auszuschneiden.
Mit 16 Jahren wurde ich Buchdrucker-Lehrling der Offizin Andersen Nexö in Leipzig, dem Nachfolgebetrieb der einstmals für ihren vielseitigen Fremdsprachensatz gerühmten Offizin Haag-Drugulin. Etwa fünf Jahre lang hatte ich Bleisatz täglich in den Fingern – Garamond, Dante, Bodoni u.a. Heute ist dieser Betrieb ein Druckmuseum; die Maschine, an der ich gelernt habe, läuft dort noch immer.
Nach meiner Zeit als Buchdrucker begann ich ein Vollzeitstudium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst. Schriftunterricht war ein Hauptbestandteil des Grundstudiums in den ersten beiden Jahren. Jede Woche hatten wir etwa 12 bis 20 Stunden praktische Übung mit der Breitfeder, wir trainierten endlos das Schreiben von Kapitalis, Minuskeln und Kursiv. Meine Lehrerin war Hildegard Korger, ihr verdanke ich es vor allem, daß ich eine gewisse Vorstellung davon habe, was Schrift ist. Wir zeichneten bei ihr auch komplette Majuskelalphabete (mit und ohne Serifen), ca. 8cm hoch, auf einzelne Kartonstücke, mit Pinsel und Tusche. Wenn an einer Form irgendetwas nicht stimmte, und sei es im Bereich von 0,1 Millimetern, unsere Dozentin sah es aus einer Distanz von drei Metern sofort und der Buchstabe mußte korrigiert oder nochmals gezeichnet werden.
Zum Ende meiner Studienzeit ergab es sich, daß ich an einem internationalen Gestaltungswettbewerb für Briefmarken teilnahm, der vom japanischen Minister für Post und Telekommunikation veranstaltet worden war. Es war der Herbst 1989, als das östliche Deutschland – und Leipzig im besonderen – von jener politischen Bewegung erfaßt wurde, die zur Wiedervereinigung führte. Als ich meinen naïven kalligraphischen Entwurf für Tokyo zu Papier brachte war ich noch ein »DDR-Bürger«, der nirgendwohin frei reisen durfte. Als ich wenige Monate später aus Tokyo die Nachricht bekam, daß mein Entwurf ausgezeichnet würde, war die Kommunistenherrschaft kollabiert und ich war ein freier Mann, der zur Preisverleihung nach Tokyo reisen konnte. Einmal in Japan, beschloß ich das Preisgeld sogleich in einen mehrmonatigen Studienaufenthalt dort zu investieren – so die quasi einmalige Gelegenheit nutzend, in diesem faszinierenden Land so viel wie möglich kennenzulernen. Es ergaben sich auch zwei Honorartätigkeiten, beim japanischen Fernsehsender NHK sowie am Hida Art Institut in Takayama.
Im darauffolgenden Jahr realisierte ich in Leipzig meine Diplomarbeit, eine dreistöckige szenische Installation von frei erdachten Buchstabenformen, die ich sämtlich von Hand schnitt.
1993 begab ich mich nach London, um meine Studienzeit am Royal College of Art mit einem postgradualen Jahr abzurunden. In diesem Jahr beschäftigte ich mich hauptsächlich mit klassischer Architektur. Noch in London erreichte mich die Mitteilung, daß mein Beitrag zu einem städtebaulichen Wettbewerb zur Realisierung bestimmt worden war; einige Jahre später wurde im Herzen Leipzigs das Nikolaisäulen-Denkmal errichtet, das an die denkwürdigen Tage im Herbst 1989 erinnert.
Die Photoserie meiner Diplomarbeit (von Matthias Hoch und Matthias Knoch) erhielt 1994 die Auszeichnung »Für typographische Exzellenz« durch den New Yorker Type Directors Club. Im gleichen Jahr machte ich mich in Deutschland selbständig. Es waren die frühen Jahre der ersten Macs – und von Fontographer. Mitte der 90er begann ich mit ersten digitalen Fonts, die zunächst lediglich Ornament- und Sonderzeichensätze waren. Als meine eigenen Glyphen das erste Mal im Textfluß auf dem Bildschirm erschienen, war das ein Schlüsselmoment für mich. An eine richtige Schrift traute ich mich noch nicht heran, da ich keinerlei Erfahrung damit hatte.
Doch eines Tages wollte ich es wissen und so versuchte ich mich dann doch an digitalen Buchstaben, mit Serifen. Sie sahen furchtbar aus. Ich arbeitete mich wochen- und monatelang an ihnen ab und nach ungezählten Stunden entstand langsam soetwas wie eine brauchbare Schrift, die ich mir auch für den eigenen Einsatz vorstellte. Da ich parallel stets an Gestaltungsaufträgen arbeitete, hatte ich reichlich Gelegenheit, meine Schrift im echten Einsatz zu erproben.
Zu dieser Zeit trug mein Arbeitszimmer den Namen »Andron«, ein Bezug zu dem Symposium-Raum des antiken griechischen Hauses, wo die Herren sich einst zum Speisen, Trinken und Diskutieren versammelten. Da hier der Ursprung meiner Schrift lag, wurde der Ausdruck zu ihrem Namen.
2003 referierte ich zum ersten Mal auf einer typographischen Konferenz über mein Schriftprojekt. Die wesentlichen Schnitte waren weit gediehen, neben Lateinisch hatte ich an Griechisch, Kyrillisch, Koptisch, Gotisch, Irisch und Angelsächsisch gearbeitet sowie einige Hundert Sonderzeichen der verschiedensten Gebiete kreiert. Auch das grundlegende Drei-Alphabetklassen-Modell war zu dieser Zeit bereits erarbeitet.
Die Redaktion des renommierten Gutenberg-Jahrbuches wählte 2004 die Andron für den Satz zweier Jahrgänge aus. Dies gab mir die Gelegenheit, einen längeren Artikel über das multiskriptive Konzept der Schrift zu veröffentlichen.
Das Werk wuchs weiter und 2005 stellt ich Dr. Deborah Anderson (Universität Berkeley, Kalifornien) eine Studie zu lateinischen Abbreviaturtypen vor. Sie empfahl mich daraufhin Prof. Odd Einar Haugen (Universität Bergen), der zu dieser Zeit an der Bildung eines kleinen Netzwerkes von akademischen Spezialisten arbeitete, was in die Gründung der Mediävistischen Unicode-Font-Initiative mündete. Ich wurde zu einem Arbeitstreffen nach Lissabon eingeladen und hier begann meine langjährige internationale Zusammenarbeit mit Sprach- und Literaturwissenschaftlern. Die Andron wurde zu einem wichtigen Mittel der Arbeit dieser Gruppe. Weitere Arbeitstreffen folgten in den kommenden Jahren.
Vorträge über die Andron konnte ich 2005 in Helsinki und München, 2006 in Berlin und 2007 in Saloniki halten. Hier hatte ich auch die willkommene Gelegenheit, die griechische Schriftkultur an Ort und Stelle zu studieren, sowie zu einem Gedankenaustausch mit Manolis Savidis, einem Kenner der griechischen Typographie.
2007 stellte ich im Auftrag von Prof. Jost Gippert (Universität Frankfurt) Fonts für drei antike kaukasische Schriften fertig. Die albanische Schrift, erst vor kurzem neu entdeckt, erfuhr dabei ihre allererste Realisierung als digitaler Font, dieser wurde in den gedruckten Erstausgaben von auf dem Sinai und in Wien entdeckten Manuskripten sowie wenig später auch für die Einführung im Unicode verwendet.
In dieser Zeit wurde die Andron zu einer gefragten Schrift, besonders unter skandinavischen Institutionen wie dem Osloer Staatsarchiv, der Universität Bergen oder den Arnamagnæanischen Instituten in Kopenhagen und Reykjavík. Die Kooperation mit der MUFI hatte eine Entwicklung der Schrift befördert, die sie für sprachwissenschaftliche und mediävistische Arbeiten hervorragend geeignet machte.
Meine Gestaltung der Runensätze führte zu einer langewährenden Zusammenarbeit mit Prof. Wilhelm Heizmann und seinen Kollegen an der Münchner Universität, für sie erarbeitete ich über viele Jahre hinweg besondere Runen-Zeichengruppen.
Mein fortwährendes Interesse an speziellen Zeichen aus allen Gebieten schlug sich in einer intensiven Beschäftigung z.B. mit metrischen und monetären Zeichen nieder und brachte mich schließlich auf das Thema versales Eszett, das unter Typographen damals kontrovers diskutiert wurde.
Mit Delegierung durch die Hochschule Burg Giebichenstein in Halle (an der ich damals Typographie unterrichtete) wurde ich Mitglied der DIN-Arbeitsgruppe Kodierte Zeichensätze, unternahm umfangreiche Forschungen zu diesem Buchstaben und präsentierte am 27. April 2007 in Frankfurt einen Kodierungsantrag vor der zuständigen Unicode/ISO-Arbeitsgruppe. Der Antrag wurde angenommen und das große Eszett damit offiziell in den Unicode-Standard aufgenommen. Seitdem hat der neue Buchstabe zahlreiche internationale Schriftgestalter inspiriert und unter Typographen und Typographie-Liebhabern gleichermaßen an Akzeptanz gewonnen.
Die Andron entwickelte sich gleichzeitig immer weiter, sowohl was Zeichengehalt und -umfang anbelangt als auch in Bezug auf den Anwenderkreis.
2011 hatte ich die willkommene Gelegenheit, Prof. Joel W. Fredell und seine Kollegen von der Southeastern Louisiana Universität (USA) anläßlich einer Konferenz in Würzburg zu treffen. Sie hatten als Pilotprojekt, zum ersten Mal überhaupt, eine nutzbare Webfontlösung auf Basis der Andron erarbeitet, die seitdem für die Faksimile-Textedition eines historischen Werkes aus der British Library in London online eingesetzt wird. Wir hatten sehr anregende Gespräche über die Perspektiven und typographischen Möglichkeiten dieser Fonttechnik im Rahmen der geisteswissenschaftlichen Forschung und Editionspraxis.
2012 erhielt ich einen weiteren speziellen Fontentwicklungsauftrag, diesmal von der Universität Kopenhagen. Im Rahmen der Andron erarbeitete ich einen kursiven Zeichensatz für die Dania-Dialektnotation.
Die fortschreitende Entwicklung der Andron war auch der Hintergrund weiterer Vorträge auf Konferenzen: 2013 in Tours (zusammen mit Odd Einar Haugen), 2014 in Odense sowie 2015 an der Bibliothèque nationale de France in Paris.
Um das Jahr 2019 überschritt der Zeichenumfang des Andron-Mega-Paketes die 14.000er Marke.
Heute wird die Andron von ausgezeichneten Buchgestaltern und international anerkannten Wissenschaftlern genutzt, in Universitäten, Instituten und anspruchsvollen Verlagshäusern in Europa, Amerika, Israel und anderen Ländern. Der anhaltende Erfolg der Schrift hat mich dazu motiviert, mit der Einführung eines neuen Webfontproduktes das typographische Niveau der wissenschaftlichen Editionspraxis auch auf dem Gebiet der Online-Editionen weiter zu fördern und damit einen neuen Maßstab in der Werksatzqualität im 21. Jahrhundert zu setzen.